Donnerstag, 19. März 2015
Drei Affen.

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Der Tag, an dem alles zu viel wird, kommt pløtzlich und unerwartet. Fünf Jahre lang ging alles gut, und nun fællt ihr auf, dass sie das alles nicht mehr sehen kann.
„Der Bus bringt mich noch um“, sagt sie morgens zu mir. Redet von Alltag und Routine, dass alles immer gleich ist.
„Was willst du denn dann?“, frage ich, und bin mir nicht sicher, ob ich ihr Problem verstehe.
„Ich würd' gern nach Frankreich“, sagt sie træumerisch.
„Nach Frankreich?“, frage ich unglæubig, weil ich mir nicht ganz erklæren kann, was sie da will.
„Ja.“ Auf einmal schaut sie mich an, als ob ihr klar wird, dass sie grade ein Geheimnis ausgeplaudert hat. Sie læcherlt frøhlich und ist wieder wie immer. Ich frage mich, ob ich mir das alles gerade nur eingebildet habe. Sie wechselt das Thema, sagt sie hat Kopfschmerzen, und dass sie morgen auf die Kontaklinsen verzichtet. Wir reden über naheliegendere Themen, die Schule, über die Klausur morgen, und ich vergesse das anfængliche Gespræch.
Am næchsten Tag hat sie ihre Brille zwischen zwei Knøpfen ihrer Bluse hængen.
„Ich kann's alles nicht mehr sehen.“ Sie gestikuliert nach der Brille, sagt, dass sie so hergekommen ist. „Aber man merkt den Unterschied gar nicht. 'n bisschen verschwommener, das ist alles.“ Sie seufzt, und inzwischen nervt sie mich, ich will nochmal für die Arbeit lernen. „Macht's auch nicht besser.“
Eine Woche spæter hat sie die Erkenntnis ereilt, dass, wenn man die ganze Zeit auf den Asphalt vor einem schaut, man überall sein kønnte, ob Paris, Lyon, oder eben hier. Man dürfe sich nur nicht auf die restlichen Eindrücke einlassen.
„Heute hab ich im Bus gelesen“, fængt sie an, „und hab die Haltestelle daran erkannt, wer aussteigt, und das ohne auch nur aufzusehen. Alle machen alles immer gleich, seit fünf Jahren, und nichts verændert sich, wie halten die das aus?“
Was soll ich da sagen? Ich fahre meine Strecke auch seit Jahren, und sehe keinen Grund mich darüber aufzuregen. Das ist nun mal so.
Wenig spæter fængt sie an, franzøsische Musik zu høren, und kommt mit Kopfhørern in den Ohren und Brille am Kragen in die Schule, wo ich über meine Notizen gebeugt sitze. Sie hørt nichts, sieht nichts, scheint keinen Grund zu sehen, die Musik abzustellen, obwohl Lehrer in Sichtweite sind. Ich bin still.
Die Tage vergehen. Sie wird immer blasser, und ich beginne mir Sorgen zu machen.
„Vielleicht“, schlage ich vor, „solltest du einfach mal einen Tag zu Hause bleiben. Ein gutes Buch lesen, oder einen Film schauen, einfach mal abschalten. So kann das doch nicht mit dir weiter gehen, bald fangen die Prüfungen an.“
Sie læchelt, irgendwie müde. „Vielleicht mach ich das. Mal einen Tag lang runter an den Fluss, was lesen... du hast schon recht.“ Sie nimmt die Brille ab, reibt sich die Augen. „Ich ertrag' nur diese Busfahrt nicht mehr, ich hab die Strecke einmal zu oft gesehen.“
Ich trete næher und umarme sie. Sie umarmt mich zurück, fest, und ich spüre, ich hab das richtige getan. Sie læchelt wieder, ganz kurz, und wir verabschieden uns für heute.
Am næchsten Tag ist sie nicht da, und ich freue mich. Im Moment verpasst sie nicht viel, und das bisschen kann sie aus meinen Notizen erarbeiten. Und morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.
Am Tag darauf ist sie wieder nicht da. Auch gut, wenn es ihr hilft.
Die folgenden Tage taucht sie auch nicht auf, die ganze Woche fehlt sie. So hatte ich das nun auch nicht gemeint, aber ich will ihr nicht bøse sein. Am Samstag rufe ich sie an, ob sie meine Notizen haben møchte. Ihre Mutter hebt ab. Ihre Stimme ist sanft, leise und fertig mit der Welt.
„Sie hatte vor vier Tagen einen Unfall.“ Schlucken. „Sie wollte über die Kreuzung Richtung Schule, weiß der Himmel warum sie gelaufen ist, anstatt mit dem Bus zu fahren. Ein Auto ist bei rot über die Ampel...“
Worte, zu viele.
In mir gefriert etwas von dem ich nicht wusste, dass es exisiert. Ein riesiger Eisblock in mir. Mit erstaunlicher Ruhe erfrage ich das Krankenhaus.
Wie sie da liegt, blass, die Augen geschlossen, kommen mir die Trænen. Fast eine Stunde sitze ich einfach nur neben ihr, meine Hand auf ihrer, und weine still vor mich hin. Sie hat nichts gehørt, nichts gesehen. Sie wollte nichts høren. Nichts sehen. Nur den Asphalt, denn der Asphalt kønnte überall sein, Paris, Lyon, oder eben hier.
Ich besuche sie so oft die Schule es zulæsst. Ich kaufe mir franzøsische Musik. Ich sehe im Bus aus dem Fenster und starre lang auf geteerte Straßen, aber mich überkommt kein Verstændnis, ich muss etwas anderes sehen als sie.
Ich mache weiter und warte darauf, dass sie aufwacht. Und es mir erklært.
Irgendwann.

-Liv

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